2019
«ES GEHT NICHT NUR DARUM SCHÖNE BILDER ZU MALEN»
Silvia Böhler: Kreativität ist etwas Schöpferisches und wird mittlerweile auch in der Wirtschaft hochgehalten. Doch wie wird der verborgene Schatz bei Kindern gehoben und wie ist die Kreativität in Politik und Gesellschaft verankert? «Das Volksblatt» hat bei Beatrice Brunhart-Risch, Georg Biedermann und Martin Walch nachgefragt.
Albert Einstein hat gesagt: Kreativität ist Intelligenz, die Spass macht. Was ist Kreativität für Sie?
Beatrice Brunhart-Risch: Es muss eine innere Motivation geben. Meiner Meinung nach, beginnt die Kreativität schon ganz früh, wenn Kinder beginnen etwas zu greifen. Die eigene Motivation setzt Kreativität voraus. Was mache ich mit dem Gegenstand, den ich ergreife, oder was mache ich mit meinen eigenen Füssen, wenn ich sie mit sechs Monaten entdecke.
Georg Biedermann: Die Kreativität ist von Beginn an da. Neue Dinge auszuprobieren hat schon viel mit Kreativität zu tun. Wir Erwachsenen haben die Aufgabe, das zu ermöglichen, wir können sie fördern, oder aber auch einschränken oder sogar verhindern.
Martin Walch: Um Kreativität zu entfalten, benötigt es auf jeden Fall Neugierde und Offenheit. Heikel ist es, wenn man Kreativität mit Talent gleichsetzt. Viele sagen, ich habe kein Talent, darum kann ich nicht schauspielern, oder darum kann ich nicht zeichnen. Das stimmt so nicht. Talent hilft natürlich, aber letztendlich kann ich durch Übung und kontinuierlichen Aufbau von Fertigkeiten vieles wettmachen und dann kann sich daraus auch Kreativität entfalten.
Kann man Kreativität also lernen oder üben?
Martin Walch: Absolut. Es gibt sogenannte Kreativitätsförderungstechniken. Wir können uns zum Beispiel Analogien aus der Natur holen und beobachten, wie ein Schmetterling fliegt. Das kann Anregung sein, für neue Bewegungsformen oder -mechanismen in unserer Gesellschaft.
Wann oder wo sind Sie persönlich am kreativsten?
Martin Walch: Eigentlich in einem Moment der Leere, einem Moment der Musse. Wenn ich nicht von alltäglichen Fragen belastet bin und einen Freiraum in einem mich wohlfühlenden Umfeld habe. Meistens finde ich das in der Natur, mich inspirieren aber auch vielfach Konzerte, in der Bewegung, wenn ich wandere oder laufe. Manchmal passiert mir aber auch morgens, wenn ich noch nicht ganz wach bin, so im Halbschlaf, dass mir plötzlich Ideen einfallen.
Beatrice Brunhart-Risch: Bei mir sind es eindeutig die Gespräche mit Menschen. Beim partizipativen Theater sind es Laien, die die Bühne erobern. Sie bringen ihre Erfahrungen, Lebensgeschichten, Probleme und zwischenmenschlichen Spezialitäten mit. Über all das diskutiere ich gerne. So bekomme ich enorm viel Input, was Menschen über bestimmte Themen denken und erhalte Antworten auf meine Fragen. Meine Kreativität wird in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber angeregt und am Schluss finde ich auch so mein Theaterstück.
Woher nehmen Sie ihre Ideen?
Georg Biedermann: Ich bin ein sehr visueller Mensch und finde meine Kreativität vor allem in der Natur und in der Kunst. Aber auch alles Visuelle, das mir tagtäglich begegnet, kann Inspiration sein. Sei das ein toller Raum oder im Theater, wo mich weniger die Sprache anspricht, sondern die Bewegung, oder auch der Tanz. Dabei bin ich ein Fan vom Einfachen. Wenn es gelingt, mich mit einfachen Mitteln zu berühren, wird meine Kreativität geweckt.
Es scheint, dass jeder eine andere kreative Quelle findet. Was bedeutet das für Eltern und ihre Kinder?
Beatrice Brunhart-Risch: Meiner Meinung nach beginnt die Förderung von Kreativität mit der Zeit und dem Raum, den wir den Kindern zur Verfügung stellen. Die beste Methode ist die Langeweile. Wenn sozusagen nichts mehr geht, muss ich von mir heraus etwas kreieren. Bei der Bildungs- und Erziehungsarbeit geht es zudem um die passive Erziehung, sprich das Vorleben. Wenn ein Elternteil in irgendeinem Bereich kreativ tätig ist, das kann auch im Garten oder im täglichen Alltag sein, überträgt sich das auch auf das Kind. Und letztlich geht es auch darum, das Optimum für sich selbst zu entdecken. Hier stellt sich die Frage: Was ist das Optimum?» Leider wird viel zu oft gewertet.
Georg Biedermann: Das stimmt. Wir Erwachsene haben einen grossen Einfluss, auch wie wir den Kindern ein Feedback geben. Loben wir das Kind für seine Zeichnung oder stellen wir infrage, warum der Elefant nun lila sein muss? Es macht einen grossen Unterschied, wenn Kinder ihre eigenen Ideen umsetzen dürfen und selbst entscheiden können, wie das Produkt aussehen soll.
Eine Psychologin hat einmal gesagt, dass Eltern ihre Kinder immer häufiger als Projekt ansehen, das bestmöglichst gelingen sollte. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Beatrice Brunhart-Risch: Ich mag solche Pauschalaussagen nicht. Eltern sind Menschen, die versuchen, die Kinder auf ihrem Weg zu begleiten. Dass man für sein Kind das Beste möchte, ist ja das Normalste auf der Welt. Nur was ist das Beste? Mehr heisst ja nicht unbedingt besser. Genau diese Fragen müssen sich die Eltern stellen. Wie viel Zeit möchte ich mit dem Kind verbringen und was möchte ich in dieser Zeit machen. Aber natürlich ist die Gesellschaft leistungsorientiert, das geht auch an uns Eltern nicht spurlos vorbei. Man will das Kind vorbereiten, auf das was kommt - nämlich Selektion und ganz viele Prüfungen, die es gilt zu bestehen.
Georg Biedermann: Die Redewendung "Kinder benötigen Wurzeln und Flügel" finde ich dabei treffend. Ein Kind benötigt ein sicheres Zuhause, das ihm Halt gibt, gleichzeitig braucht es aber auch Freiheit und den Raum, negative Erfahrungen machen zu dürfen. Jedes Kind ist ein Individuum. Sobald das Kind in die Schule kommt, werden jedoch bestimmte Lernziele vorgegeben. Die Natur ist völlig anders, die einen erlernen Fähigkeiten früher, die anderen etwas später. Für die Eltern ist das natürlich eine Herausforderung, Ruhe zu bewahren und ihr Kind trotzdem zu stärken, auch wenn es vielleicht gegenüber anderen im Hintertreffen ist.
Martin Walch: Unsere Gesellschaft bietet heute eine Vielzahl von Möglichkeiten im Freizeitbereich an. Viele Jugendlichen lernen heute ein Instrument, weil man weiss, dass Musik die Kreativität entfaltet und damit auch förderlich für die persönliche Entwicklung ist. Das gilt übrigens für alle Ausdrucksformen, egal ob Theater, Tanz oder im Gestalterischen. Hier stecken wir, als Kursanbieter in einem Dilemma. Auf der eine Seite fordern wir, die Kinder nicht zu einem «Projekt» zu machen, auf der anderen Seite wollen wir als Institution natürlich Kunden generieren. Auch die Eltern befinden sich in einer Ambivalenz. Die Kinder sollen kreativ sein, sportlich und so weiter. Oft beginnt man auch mit den anderen Kindern zu vergleichen und das Überangebot an Aktivitäten ist letztlich gelegentlich kontraproduktiv.
Beatrice Brunhart-Risch: Ich glaube, die Kinder regeln das selbst. Wenn ein Kind sich nicht angesprochen fühlt von einem Angebot, dann nimmt es kein zweites Mal daran teil. Ich bin dafür, dass Kinder ausprobieren dürfen. Die Schule ist Pflicht, das ist quasi der Job. Daneben gibt es aber Dinge, die wählbar sind - sprich die Gestaltung der Freizeit. Es kann gut sein, wenn man dem Kind gewährt in verschiedene Angebote hineinzuschnuppern, dass dann vielleicht eine gewisse Zeit lang ein überfülltes Programm stattfindet. Hat das Kind aber den Freiraum zu wählen, wird es sich schlussendlich gemäss seiner inneren Motivation für etwas entscheiden.
Georg Biedermann: Ich wollte als Kind ein grosser Leichtathlet werden, hatte hierzulande aber die Möglichkeiten nicht und musste in den Turnverein gehen. Wenn ich einen tollen Leichtathletikclub gehabt hätte, hätte ich vielleicht meinen Traum erfüllen können. Was ich damit sagen will, heute haben wir zwar ein Überangebot für die Kinder, aber es sind nicht alle gleich gut. Die Qualität ist entscheidend.
Martin Walch: Die Vielfalt bringt Chancen, sich entscheiden zu können. Das kann die Eltern und Kinder aber auch überfordern. Es braucht bestimmt eine glückliche Hand der Eltern, dass sie den Kindern den notwendigen Freiraum gewähren und andererseits auch führen.
Die Freizeit kann also selbst gewählt werden, manchmal auch nicht. Die Schule ist allerdings Pflicht, der neue Lehrplan Lile rückt die Mint-Fächer in den Vordergrund.
Beatrice Brunhart-Risch: Ich finde die Mint-Fächer wichtig, es muss aber auch einen Ausgleich dazu geben. Lile ist ein Lehrplan, der Leitplanken liefert - gute Schule macht aber die Lehrperson. Sie ist dafür verantwortlich, dass es eine gute Mischung von allem gibt.
Martin Walch: Ich denke, naturwissenschaftliche Fächer setzten genauso Kreativität voraus. Aufgrund der wirtschaftlichen und ökonomischen Forderungen wurden aber vor allem die musischen Fächer gekürzt. Über kurz oder lang sollen jedoch die gestalterischen, musischen Fachbereiche verstärkt in die anderen Fächer integriert werden. Das ist grundsätzlich richtig, doch ungenügend, wenn keine qualitative Ebenbürtigkeit der unterschiedlichen Fachbereiche gewährleistet ist. Die Rolle der Bildungsinstitutionen mit musischem, künstlerischem (Freizeit-)Angebot wird daher momentan immer wichtiger.
War es nicht immer schon so, dass die Fächer Musik oder Zeichnen in der Schule als nicht so wichtig erachtet wurden?
Beatrice Brunhart-Risch: Wenn ich meine Schulzeit mit derjenigen meiner Kinder vergleiche, hat sich sehr viel verändert. Im Gymnasium gelten Sport, Kunst und Musik als Promotionsfächer. Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.
Martin Walch: Das stimmt, doch die Bedeutung oder Wertung ähnlich einem naturwissenschaftlichen Fach, ist auf allen Ebenen nicht gewährleistet. So werden zum Beispiel Lehrende der musischen Fächer auf der gymnasialen Oberstufe immer noch geringer honoriert als ihre Kollegen.
Georg Biedermann: Ich wünsche mir ein «Mint + Art». Es darf nicht einseitig unterrichtet werden, sondern muss die Ganzheitlichkeit berücksichtig werden. Zudem sehe ich auch, dass das System immer mehr einschränkt und es immer weniger Freiräume für die Kinder gibt. Der Kindergarten gilt schon fast als Schule und auch die Lehrpersonen sind durch die entsprechenden Vorgaben eingeschränkt. Ein Theaterbesuch ausserhalb der Schule muss mittlerweile weit im Voraus geplant werden.
Es gibt Länder, die sind viel weiter als wir, zum Beispiel alle nordeuropäischen Länder. Liechtenstein könnte ein Modellstaat sein, aber bei uns steht die Wirtschaft im Vordergrund und die Wirtschaftstreibenden machen natürlich Druck, damit auch das entsprechende Know-how in den Schulen gelehrt wird. Dabei gibt es doch das Recht der Kinder auf Kunst und Kultur, das in manchen deutschen Bundesländern sogar im Grundrecht steht. Auch bei uns müsste das politisch und in der Gesellschaft noch stärker verankert werden.
Beatrice Brunhart-Risch: Ich sehe den Mangel vor allem in der frühen Förderung. Bei uns kommen die Kinder enorm spät in den Kindergarten und die Angebote, die in den ersten Lebensjahren stattfinden sind meist nicht so gut wie in anderen Ländern. Bei uns gibt es etwa kein geregeltes Förderungsprogramm für Dreijährige. Kinder, die in keinem angeregten Umfeld aufwachsen, sind so von Beginn an benachteiligt.
Welchen Beitrag können Sie hier als Institutionen leisten?
Beatrice Brunhart-Risch: Die Förderung von Kind und Jugend ist sicherlich ein Kerngeschäft. Wir sind eine Theaterschule, also eine pädagogische Institution. Die Eltern wissen, bei uns kann man etwas lernen, ähnlich wie in der Kunstschule. Die Kinder können zu selbstbewussten, offenen Menschen heranwachsen. In der Theaterwelt spielt vor allem auch das soziale Miteinander eine zentrale Rolle, es ist ein Austausch, ein Geben und Nehmen. Das ist aber nicht nur bei uns so.
Georg Biedermann: Wir sind keine Schule, sondern ein Kunstort. Wir wollen die Kunst zugänglich machen, so dass Eltern und Kinder erkennen, dass die Kunst nicht etwas Abgehobenes auf der Bühne ist, sondern wir versuchen sie gemeinsam mit den Schauspielern und dem Publikum ganz nah werden zu lassen.
Herr Walch, wie wichtig ist das Miteinander im gestalterischen Bereich?
Das Klischee, des hehren Künstlers, der in seinem eigenen stillen Kämmerlein werkt, hält sich hartnäckig. Aber auch im Gestalterischen geht es nicht nur darum ein schönes Bild zu malen, letztlich hat Kunst immer einen Ansprechpartner. Es geht um Kommunikation im weitesten Sinne. Besonders im Jugendbereich, etwa in der Atelierklasse, wo gemeinsam gekocht und gegessen wird, stellen wir auch fest, dass das soziale Miteinander eine tragende Rolle spielt - auch in der Entwicklung und Förderung der Kreativität. Nicht nur das handwerkliche Tun und die Fertigkeiten sind wichtig für eine Ausdrucksfähigkeit, sondern auch das Soziale. Das Miteinander fördert die breit gefächerte Kreativität. Eine Interaktion, so wie wir sie fordern, passiert eher selten. Das lässt sich auch auf die Vereine und Organisationen übertragen, derer wir sehr viele haben und die wertvolle und gute Arbeit leisten. Dennoch kocht jeder sein eigenes Süppchen. Wir klopfen einander auf die Schulter, aber vertiefte, kritisch-konstruktive Zusammenarbeit erfolgt doch nur sehr selten.