Martin Walchs künstlerisches Interesse gilt im Wesentlichen der Kommunikation, dem interaktiven Austausch zwischen Menschen sowie deren Abhängigkeitsverhältnissen vom Dinglichen und Situativen. Mit seinen Arbeiten untersucht er alltägliche Handlungen, Gedanken und Zielsetzungen und reflektiert ihre Sinnhaftigkeit. Zur Veranschaulichung kommunikativer Bezugssysteme dienen ihm häufig banale Gebrauchsgegenstände, die er isoliert, verwandelt oder ergänzt und in ungewohnte Zusammenhänge stellt. Auf diese Weise hinterfragt er herkömmliche Sichtweisen und alltägliche Verhaltensmuster, analysiert geläufige Kontexte und bringt tradierte Bedeutungen ins Wanken. Die kritische Beobachtung der eigenen Umwelt, der Alltagsrhythmen, der Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Zuständen teilt sich in einer Bildsprache mit, die von einem sicheren Material- und Formbewusstsein zeugt.
Dabei zeichnet sich die Mehrzahl seiner Werke durch eine Offenheit aus, die dem Betrachter eine individuelle Rezeption ermöglicht. Die Arbeiten bewegen sich in einem Spannungsfeld, das Fragen öffnet und keine abschließenden Antworten gibt; vielmehr möchte der Künstler einen durch das Werk gegebenen Impuls in eine individuelle Denkart münden lassen. Martin Walchs künstlerische Arbeit ist insofern konzeptuell, als die Mehrzahl seiner Werke sich durch eben diese Offenheit auszeichnet und dem Betrachter einen aktiven Denkprozess abverlangt; seine Arbeit ist konzeptuell insofern, als sie sich Vorgefundenes, Objektives aneignet oder mit klar definiertem, industriell produziertem Material umgeht. Dabei ist die Formensprache eine reduzierte, sparsam und unkonventionell sind die eingesetzten Gestaltungsmittel, welche die künstlerische Idee transportieren. Doch geht Walchs Schaffen weit darüber hinaus, was im engeren Sinne als Konzeptkunst zu begreifen ist. Sie lässt sich nicht in ein bestimmtes Gefäß, einen klar definierten Stil oder ein Genre einordnen. Ihre Stärke liegt in einer gewissen Unbestimmtheit, die ihr zu großer gestalterischer Freiheit verhilft, die sich die Kunst seit den 1970er Jahren selbst einräumt. Achille Bonito Oliva beschrieb diesen Moment zutreffend: Die Idee der Kunst am Ende der siebziger Jahre ist die, in sich das Vergnügen und die Gefahr wiederzuentdecken, die darin liegen, den Stoff des Imaginären, der aus Umherschweifen und Anecken, aus Annäherungen, niemals aber aus endgültigen Festlegungen besteht, kräftig zu vermengen. Das Werk wird zu einer Karte des Nomadentums ..., die außerhalb jeder vorgegebenen Richtung von Künstlern praktiziert wird, die als blinde Seher um die Lust an der Kunst kreisen, die sich vor nichts unterwirft, auch nicht vor der Geschichte.1
Sich der Geschichte nicht zu unterwerfen kann in diesem Zusammenhang aber nicht heißen, dass sich die Kunst im geschichtslosen Raum entwickelt, sondern lediglich, dass sie sich einer linear definierten Entwicklungslogik entzieht. Die Arbeiten von Martin Walch machen deutlich, dass sich sein Schaffen durch ein tief verankertes ästhetisches Empfinden und einen daran gebundenen Ausdruckswillen auszeichnet, der gewisse traditionelle Gesetzmäßigkeiten nicht leugnen kann. Allen Werken ist ein angemessenes Material- und Kompositionsbewusstsein eigen, welches die Kommunikation zwischen Künstler, Werk und Betrachter letztlich doch über die Anschauung bewerkstelligt. Diese Haltung scheint der Forderung nach Abwendung von einer retinalen Ästhetik, wie sie die Konzeptkunst ursprünglich und im weiteren Rückblick vor allem auch Marcel Duchamp verlangten, ebenso entgegenzustehen wie einer vielfach propagierten Tendenz zur Entmaterialisierung.
Offenkundig ist eine Vorliebe für das Objet trouvé; doch bereits in dessen Findung beziehungsweise Auswahl und in der Art und Weise der künstlerischen Weiterverarbeitung lebt deutlich spürbar ein Bedürfnis zur ästhetischen Anverwandlung und Transformation. In der Arbeit Balance bildet eine herkömmliche Wasserwaage die Ausgangssituation. Einfache Klarsichtfolie umspannt einen Stahlrahmen und bildet somit einen transparenten Raum, in den diese eingefügt ist. In doppelter Hinsicht wird der Werktitel anschaulich: zum einen durch das Werkzeug selbst, das ermöglicht, waagrechte oder senkrechte Flächen auszurichten; zum anderen durch den Balanceakt, der notwendig ist, um das Gerät in die dünne, leicht verletzliche Folie so einzufügen, dass es sich in der Waage hält und die Folie nicht reißt. Dabei haben auch ästhetische Prinzipien und kompositorische Gesetzmäßigkeiten einen bedeutsamen Stellenwert: Form und Größe des Stahlrahmens, die Platzierung der Wasserwaage sowie die auf Distanz kaum wahrnehmbare Folie bilden eine ausgewogene Komposition aus horizontalen und vertikalen Linien, die den sensiblen Raumkörper bilden, der weit über eine rein formalistische Konstruktion hinausweist. Was hier in Balance gebracht wird, ist nicht ein konkreter Gegenstand, sondern ein Zustand, der sich auf Raum und Zeit bezieht, dessen Gleichgewicht äußerst fragwürdig ist.
Einfühlsamen, experimentierfreudigen und spielerischen Umgang mit Materialien in Verbindung mit alltäglichen Situationen macht auch die Arbeit Beacon anschaulich. Während eines Werkjahres in New York entstanden räumliche Reihungen aus einfachen Pappkartons, in die Martin Walch Formen und Muster einschnitt, denen er dort im Alltag begegnete. Den Impuls gab hier die Auseinandersetzung mit dem großstädtischen Umfeld, die sich nicht in einem formalen Suchen erschöpfte, sondern auch Gedanken über die realen Lebensumstände einer Stadtbevölkerung einschloss, deren Existenz sich auf sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen abspielte. Die Pappkartons, die auch Obdachlosen als dürftige Behausung und zum Schutz vor Kälte dienen, wurden zu architektonischen Gebilden lose zusammengefügt. Durch das regelmäßige Ornament erhielt der banale Gegenstand eine ästhetische Verwandlung, die seinen Bedeutungsgehalt mehrfach hinterfragt: Einem konkreten Nutzen entzogen, vermag der Karton weder als Schutz noch als Behältnis zu dienen; der stabilen Architektur der Stadt gegenüber gestellt, weist die plastische Arbeit zwar formale Analogien auf, macht aber zugleich deutlich, dass es sich wiederum um eine fragile Ordnung handelt, deren Bestand im urbanen Umfeld nicht von Dauer sein kann. Aus dem ursprünglichen installativen Kontext herausgelöst und in einen Ausstellungsraum übertragen, ist dieser Zusammenhang nicht mehr ablesbar. Das Werk behält aber auch hier seine Berechtigung und Wirkung, es zeigt die Materialität der Zivilisation und darüber hinaus bietet die Installation eine Möglichkeit, durch die explizite Einführung subjektiver Ordnungen und Relationen unter den Dingen diejenigen Ordnungen zumindest in Frage zu stellen, die in der Realität ,da draußen vermutet werden.2
Auch die Arbeit Tabula wirkt zunächst, ebenso wie Balance und Beacon, über eine starke sinnliche Präsenz, die das Auge zu binden und auf diesem Wege im Weiteren die gedankliche Reflexion in Gang zu setzen vermag. Insgesamt 14 Tischplatten aus dem Zeichensaal der Schule, an welcher er einst sowohl als Schüler wie auch als Lehrer eine gewisse Zeit seines Lebens verbrachte, hat Martin Walch vor ihrer Vernichtung bewahrt, sie mit massiven Eisenhalterungen versehen, um sie als Tafelbilder in einer seriellen Reihung zu präsentieren. Unreflektiert, eher zufällig, ohne Gestaltungswille im Sinne einer künstlerischen Komposition, wurden die Tische mit Schriftzügen, Zeichen und Symbolen in dichtem Allover von Schülern bedeckt. Befindlichkeiten, Abneigungen, Vorlieben und Interessen von Generationen von Schülern kommen hier zum Ausdruck und bilden in ihrem kürzelhaften, sowohl symbolischen als auch verbalen Jugendjargon ein Zeitdokument. Dass der Künstler auf sie aufmerksam wurde, mag auch mit seinem beständigen Interesse am sprachlichen Ausdruck, an der Kraft und Poesie des Wortes liegen. Dies wird bereits in früheren Arbeiten anschaulich, in denen er Worte und Sätze als zusätzlichen Bedeutungsträger integrierte und somit die bildnerische Gestalt mit einer sprachlichen verband. Der Schultisch als Zufallsprodukt, banaler Alltagsgegenstand, ausrangiertes Möbel, als Objet trouvé, nur minimal abgewandelt, wird durch den kreativen Akt der Selektion zum Kunstwerk, das sich durch seine Kohärenz zwischen Ausdruck, Gegenstand und Künstler auszeichnet. Auf diese Weise wird eine Ästhetik des Authentischen manifest, die allen Werken des Künstlers eignet und die ihre Kraft aus dem ausgewogenen und gleichermaßen spannungsvollen Verhältnis zwischen formalen und inhaltlichen Überlegungen bezieht.
1 Achille Bonito Oliva, Die Italienische Trans-Avantgarde. In: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 121 ff.
2 Boris Groys, Topologie der Kunst, München/Wien 2003, S. 27.