CHRISTIANE MEYER-STOLL 08: Von der schönen Zweckfreiheit in unbeobachteten und feierlichen Momenten
VON DER SCHÖNEN ZWECKFREIHEIT IN UNBEOBACHTETEN UND FEIERLICHEN MOMENTEN
Zu Arbeiten von Martin Walch
Eine samtige, leicht metallisch schimmernde, tief schwarze Oberfläche fängt den Blick und weckt instinktiv - den Impuls diese Fläche zu berühren, sie näher zu erkunden, mit dem Finger über sie zu gleiten, um zu erfahren, wie sie beschaffen ist. Please, do not touch heisst die 150-teilige Arbeit von Martin Walch. Und gerade die höfliche Aufforderung, im Titel die Fläche nicht zu berühren, verstärkt ihre Anziehungskraft und lockt den Tastsinn. Zugleich verleiht der Titel der Arbeit einen schelmischen Zug, weiss Martin Walch doch um die Verführungskraft und um den Drang, allzu gern Grenzen auszuloten. Leicht lässt sich der Betrachter so auch vom Sog verleiten seine Spur im samtigen Schwarz zu hinterlassen. Kaum begonnen, fährt er meist freudig fort, erzeugt einfache Dinge, sogenannte Krakeleien. Diese Notizen sind unmittelbarer, ungefilterter Ausdruck.
Es sollte niemand Ausdruck mit Kunst vergleichen. Ausdruck ist eine mögliche Komposition, denn er geschieht aus einer unbezweifelten Notwendigkeit, geschieht ohne Zögern und ohne Fragen. Ausdruck ist unbelastet von kulturellen Vorbildern wie auch von Absicht und Erwartung. (Arno Stern)
Für die Arbeit Please, do not touch trug Martin Walch auf Transparentpapier Schichten farbigen Buntstifts auf und legte darüber gedeckte Schichten Graphit. Nach einer Zeit verbinden sich diese zwei Substanzen von einer anfänglich extrem empfindlichen zu einer kompakteren und stabileren Oberfläche, in die sich die Bewegung der Finger mühelos einschreiben kann, ohne selbst geschwärzt zu werden ganz ähnlich einem Fenster, an welches wir unseren Atem hauchen, um hineinzuzeichnen.
Martin Walch lässt mit seinen Arbeiten in uns schlummernde Impulse wach werden. So zart die Geste auch erscheinen mag, so zeugt sie doch von einer tief in uns liegenden lebendigen Form unmittelbaren Ausdrucks. Zumeist schieben wir diese spontanen Handlungen als weiter nicht bemerkenswert beiseite. Gerade diese beiläufigen und authentischen Formen von Ausdruck bergen grundlegend Menschliches. Wesentlich ist dabei, dass dieses Tun ohne Zweck stattfindet, ohne ausgeklügeltes Ziel, ohne absichtsvoll an ein Aussen gerichtet zu sein. Dieses Handeln kommt vielmehr ganz aus sich heraus. Es ist ursprünglicher Ausdruck, der Momente positiven und selbstvergessenen Tuns in sich birgt, und der zugelassen, etwas Ausgleichendes und Zufriedenstellendes bewirkt. In Please, do not touch bekommen diese Momente einen Ort, zeigen sich als ephemer und zart.
Das Hinterlassen von Spuren in Form von Kritzeleien taucht in unserem Alltag häufiger auf, sei es, nebenbei beim Telefonieren oder wenn wir in unserer eigentlichen Tätigkeit nicht weiter kommen. Sie kommen aber auch an Orten vor, an denen für diese Artikulation kein Raum ist, an solchen Orten, in solchen Momenten verändern sich die Parameter in vehementer, oft aggressiver Weise. Etwa an Orten des Wartens, wie Haltestellen, Unterständen, oder auch Toiletten. Es können Momente sein, in denen wir nervös, wütend oder verzweifelt sind, in denen wir uns allein fühlen, aber auch einfach in Momenten, in denen wir geistig nicht gefordert sind, oder uns die Konzentration schwerfällt.
In solchen Momenten schweifen die Gedanken leicht ab. Geschieht dies nur aus Langeweile oder vielleicht aus Aggressivität? Aus fehlender Disziplin? Ist es bedeutungslos? Was passiert in so einem Moment? Worauf richtet sich unsere Aufmerksamkeit? Warum entwickelt sich dabei oft das Bedürfnis sich durch die Hände auszudrücken? Diese Momente sind ja nicht solche der Untätigkeit, Aktivität findet ja statt. Was geschähe, wenn wir lernen würden diese Momente ernst zu nehmen? Wenn wir ihnen den angemessen Ort und Raum geben könnten, ihnen Aufmerksamkeit entgegenbrächten? Wenn wir sie als ein Bedürfnis von Ausdruck, als notwendige Pausen, als Momente der Verarbeitung annehmen. Könnte sich ihre Zartheit dann wandeln zu kreativen und zentrierenden Impulsen?
In Tabula 1972-2007 finden wir solche Momente in komprimierter Form. Vierzehn Schultische, die über Jahre hinweg dem Hinterlassen von Notationen dienten. Auf diesen Tischen hinterliess ein Lernender nach dem Anderen seine Spuren, schrieb sich in die Spuren der Vorgänger ein, überschrieb, bearbeitete, ergänzte, formte neu, bis ein dichtes Geflecht entstand. Und es scheint, dass gerade dieses engmaschige Netz reizte, sich genau hier in das Geflecht einzuzeichnen, es scheint, dass sich hier ein Feld kontinuierlicher Kommunikation gebildet hat, indem der Wunsch stark ist, ebenfalls Teil der anonymen Präsenz zu sein.
Martin Walch transformierte diese Tische aus ihrer Handlungsebene in die Betrachterebene, in die Ebene der Reflexion. Diese künstlerische Geste ermöglicht, der intensiven und aufgeladenen Atmosphäre, die sich über die Zeit auf diesen Plattformen eingeschrieben hat, sichtbar und spürbar zu werden. Dadurch wird es erst möglich die Tafeln als kontinuierlichen und grundlegenden Prozess zu erkennen. Zeit, in ihrer räumlichen Tiefe, als Zeit an sich, aber auch als Geschichte, als Leben in seinen immerwährenden Grundbedürfnissen wahrzunehmen. Und der Schönheit, die sich hier wie Ablagerungen Buchstabe um Buchstabe, Krakelei um Krakelei geformt hat, gewahr zu werden.
Diese scheinbar sinnlosen, überwiegend als verloren geltenden Momente formen im Unscheinbaren - oftmals sogar im Verbotenen Ausdruck: Auch sie sind Kommunikation. In unserem allgemeinen Selbstverständnis von Lernen und der Entwicklung von Kompetenzen werden diese als störende Abschweifungen angesehen, Unaufmerksamkeit und Faulheit sind Bilder, die wir damit verbinden und dies obwohl wir zumeist selbst wohl vertraut damit sind.
Die neuere neurobiologische Forschung zeigt, dass nachhaltiges Lernen dann möglich ist, wenn der Impuls zum Lernen aus uns selbst kommt und aus freudig-spielerischem und angstfreiem Antrieb geschieht. Manfred Spitzer, Gründer des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen an der Universität Ulm betont zudem, dass die Emotionen für Lernvorgänge zentral sind.
Diese stillen, ausdrucksvollen Momente tragen Emotion in sich. Meist Gefühle, die nicht bewusst zum Ausdruck gebracht werden können. Sie sind ein Teil unseres Selbst, das nach Verbundenheit mit dem Eigenen sucht. Die Fähigkeit unseres Selbst gewahr zu werden beinhaltet die Fähigkeit die äussere Wirklichkeit mit ihren Gesetzmässigkeiten vom Ich zu differenzieren. Das bildet wiederum die Basis für die Möglichkeit zur Vergesellschaftung, zu der soziale Kompetenz, Flexibilität und Offenheit gehören. Werden solch kreative Urmomente jedoch stets unterbunden, als unwichtig und eventuell sogar verurteilenswert, beiseite geschoben, so wird das Potential der achtsamen Eigenwahrnehmung und Differenzierung, das heisst auch der Abgrenzung, zu einem oft mühseligen Weg.
Es gibt eine Ökologie schlechter Ideen, genau wie es eine Ökologie des Unkrauts gibt und es ist charakteristisch für das System, dass sich grundlegende Irrtümer fortpflanzen. Sie verzweigen sich wie eingewurzelte Parasiten durch die Gewebe des Lebens, und alles gerät in einen ganz besondern Schlamassel. Engt man seine Erkenntnistheorie ein ... dann schneidet man die Erwägung anderer Schleifen in der Schleifenstruktur ab. Man entscheidet, dass man die Nebenprodukte des menschlichen Lebens loswerden will ... (Gregory Bateson)
Wie sehen unsere Augen? Sehen sie scharf oder unscharf? Sehen sie weit oder nah? Sehen sie räumlich, flächig oder gekrümmt? Wie funktioniert Sehen? Wie geht Wahrnehmung von statten? Vertikal verspannte Gummischläuche, die gleich festen Stangen erscheinen, strukturieren in der Arbeit Kalte Augen, 1991 den Raum. Beim zweiten Blick weisen diese Senkrechten über Kopfhöhe runde und durchsichtige Auswölbungen auf, durch die sich bereits aus der Entfernung ungewohnte Blicke ergeben. Auch in dieser Arbeit wird der Betrachter gleichsam von selbst zum Handelnden und Erfahrenden. Denn die Lust den Blick durch diese Ausbuchtungen zu richten, verleitet dazu sich an den Vertikalen festzuhalten, sich zu strecken und hindurchzusehen. Dabei erweisen sich diese scheinbaren Stangen als flexibel und beweglich. Recht mühelos lassen sie sich heranziehen und geben den Blick durch Linsen frei. Ein spielerisches Betrachten beginnt, jeder Blick ist anders, einmal unscharf, einmal kleiner, einmal grösser, einmal gekrümmter, einmal so unscharf, dass längeres Betrachten zu leichten Schwindel führen kann.
Martin Walch visualisiert in dieser Installation mit einfachsten Mitteln - Gummischläuchen und optischen Linsen wie grundverschieden Sehen sein kann und lässt dabei den Betrachter eine Ahnung von der Komplexität der Wahrnehmung bekommen. Eigenes Sehen und fremdes Sehen greifen ineinander. Es entsteht ein Moment, indem die Interaktion von äusserer und innerer Wahrnehmungsrealität sich neu formiert. Im Einlassen auf dieses ungewohnt differenzierte Wahrnehmen kann das Andere, ein anderer Blickpunkt erlebt werden, dabei spielt der Moment von Bewertung eine nebensächliche Rolle, entscheidend ist das unmittelbare Erleben. Die Frage, die sich stellt, ist: Gibt es eine wahre einzige Realität?
Unsere moderne Zivilisation hat sich zu einem großen Teil der Illusion verschrieben! Es gibt nicht die geringste allgemeine Information über die Natur des Geistes: Die Schriftsteller und Philosophen erwähnen sie kaum ... die Mehrzahl der Naturwissenschaftler leugnet sogar, dass es sie überhaupt geben kann. Sie spielt keinerlei Rolle in der populären Kultur ... Wir werden in der Tat in dem Glauben erzogen, dass es ausserhalb dessen, was wir direkt mit unseren Sinnen wahrnehmen können, nichts Wirkliches gibt. (Soygal Rinpoche)
In der Werkgruppe Passagier (begonnen 1989) findet die Intensität momentanen Erlebens feierlichen Ausdruck. Martin Walch widmet sich in einer Anzahl von verschiedenen Inszenierungen der Feuerwerkskunst, die Theodor W. Adorno als die perfekteste Form der Kunst bezeichnete, da sich das Bild im Moment seiner höchsten Vollendung dem Betrachter wieder entzieht. Feuerwerke wurden besonders anlässlich barocker Feste als krönende Höhepunkte eingesetzt: Prachtvoll, üppig und laut erleuchteten die Feuerwerkskörper gleich Fontänen, Vulkanen oder Wasserfällen den Nachthimmel. Martin Walch legt in seinen Inszenierungen einen konzentrierten Spannungsbogen an. Der Einsatz der Mittel ist bestechend einfach: Über Tausende von Wunderkerzen, die meterlange Linien, gleich Zündfäden über Räume oder das Stiegenhaus hinab formieren und in einem minimalistisch, geometrisch-komplexen Körper ihren Abschluss und Höhepunkt erreichen. Passagier II-VI brannten in teils mehrstündigen Prozessen ab, so entzündete sich zum Beispiel Passagier VI, 1998, im Offenen Kulturhaus Linz über drei Stunden hinweg.
Ein Zischeln mit blitzenden Funken wandert von der ersten Wunderkerze zur zweiten, zur dritten, bis zur letzten, gleichmässig, kontinuierlich, Zug um Zug. Das im Innenraum stattfindende Feuerwerk entfaltet sich mit Zeit. Diese Zeit des geduldigen und betrachtenden Wartens intensiviert die Aufmerksamkeit, steigert das Erlebnis bis hin zum Höhepunkt, das sich einzig in die Erinnerung einschreibt. In Martin Walchs Arbeiten geht es um grundlegende Fragen des Lebens, den Moment, der Leben ist, der Bedeutung in sich trägt und der wirkt.
CHRISTIANE MEYER-STOLL /2008