THOMAS G. BRUNNER 2008: Das Schwanken der Realität
DAS SCHWANKEN DER REALITÄT
Zur Ambivalenz in Martin Walchs installativen Arbeiten
Exemplarisch für Martin Walchs Schaffen steht die frühe Installation Kalte Augen. Optische Linsen, in vertikal gespannten Gummischläuchen befestigt, variieren den Blick, verändern, verzerren oder korrigieren ihn.
Vormals fraglos als feststehend Betrachtetes bewegt sich unerwartet. Welcher Blick ist der Richtige? Welche Wahrnehmung deckt sich mit dem Realen? Fragen, die sich manchem Brillenträger stellen, bemächtigen sich des Schauenden, der im Bestreben, die Linse auf seine Augenhöhe zu ziehen, die Ordnung der Gummischläuche ins Wanken gebracht hat: was wie Stäbe, ein streng gebautes geometrisches Gerüst erschien, wird als labil erfahrbar, schwankend wie die aus dem Tritt der Gewohnheit gebrachte Wahrnehmung, Ambivalenz, Gegensätzlichkeit vibriert in einer scheinbar einfachen, feststehenden Ordnung.
Das Schwanken relativiert das Beruhigende der strengen Gliederung, lässt durchscheinen, wie fragil und vielleicht auch vorläufig unsere Verortungen und Ordnungen sind, dass Wirklichkeit wohl etwas Unbekanntes dahinter ist, dem wir uns bruchstückhaft nähern. Unsere Alltagswirklichkeit ist vielleicht der Balance vergleichbar, jener Wasserwaage, die nur von einer äusserst dünnen, auf ein Stahlgerüst gespannten transparenten Folie in einer Art Schwebezustand gehalten wird.
Das Unbekannte im Vertrauten verunsichert, öffnet jedoch auch neue Erfahrungsräume. Die Wirklichkeit wird aufmerksamer, intensiver wahrgenommen, wo sie nichts Statisches mehr ist.
Martin Walch schneidet Löcher in festgefahrene Vorstellungen. Oft schneidet er handfest mit dem Japanmesser oder der Stichsäge.
In den in New York entstandenen Arbeiten Mandala, Pier und Beacon schneidet Martin Walch im Umraum vorgefundene Muster einer Wasserturmverkleidung, eines Kanaldeckels und ein Sonnenmotiv in Pappschachteln, wie sie von städtischen Obdachlosen als flüchtige Behausung genutzt werden. Die mit diesen Fenstern versehenen Schachteln baut er zu architektonischen, fragilen Gebilden, die er der Stadtarchitektur gegenüberstellt. Ein Lufthauch könnte sie wegblasen, während die Häuserblocks stehenblieben.
Mit Einschnitten hat Martin Walch auch den nackten Beton hinter den elsbeerfournierten Spanplatten der Kundenräume der LGT freigelegt. Ornamente und einer von Samuel Beckets Mr. Knott-Sätzen in den Wandverkleidungen der Bank legen offen, schaffen Transparenz. Leise rüttelt der Mr. Knott-Satz an der Sicht der Dinge, einer von zwölf Sätzen, die in der subtilen Veränderung in ihrer monotonen Abfolge jenes Feststehende in Bewegung versetzen, das von der Monotonie der Wiederholung eigentlich zementiert werden sollte. Mr. Knott war für die Anordnung verantwortlich und war zufrieden. Ein ähnliches sprachliches Phänomen irritiert aufmerksame Betrachter der quadratischen Taschentücher, auf denen sich Sätze aus der Genesis über Leben und Lebensdauer alttestamentlicher Patriarchen litaneihaft wiederholen, in ihren leisen Variationen am Quadratischen kratzen, an jener mit dem Bügeleisen bestärkten Versicherung, dass die Welt viereckig sei. In den Vibrationen zwischen den Sätzen wird ungewiss, ob wir alles in unseren karierten Raster unterbringen.
So roh wie die Letttern des Mr. Knott-Satzes in die Wandverkleidung der LGT hat Martin Walch das Erste-Hilfe-Kreuz in die Türen einer ehemaligen Zürcher Klinik gesägt, Durchblicke geschaffen, wo einst Krankheit von Gesundheit separiert wurde. Die Leerstellen verbinden Innen und Aussen, schaffen Durchlässigkeit.
Dass sie auch trennen können, zeigt die Arbeit Membran. 150 x 250 cm grosse Metallgitter aus feuerverzinktem Eisenrohr verwenden das Format der Schweizer Jasskarten und einladende Motive wie Herz und Sonne, stehen aber im Raum wie mobile Wände. In Jekaterinenburg im Ural und andernorts im Osten fand Martin Walch einfache, aus Armierungseisen geschweisste Fenstergitter, die in verwandter scheinbarer Widersprüchlichkeit mit der Symbolsprache der Motive Liebe einladen und in ihrer Funktion als Gitter Grenzen schaffen. Weitere Gitter, auf eine lange Eisenstange geschweisst, platziert Martin Walch wie überdimensionierte Fliegenklatschen in die Landschaft: Werkzeuge, etwas weit Entferntes zu fangen.
In der im Kunstraum Schichtwechsel, Vaduz, installierten Arbeit Windows schaffen wie Schaukästen oder Aquarien vor die Fenster gespannte Glaskästen vielfältige Bezüge zwischen Innen und Aussen, Ein- und Ausgrenzungen. Tagsüber scheinen die vom Lichteinfall geprägten Verspiegelungen den Aussenraum in den Innenraum zu projizieren oder zu verlängern, die Äste der Bäume zum Beispiel ragen dem Betrachter entgegen, greifen nach ihm, worauf nachts sich eine Umkehrung einstellt, die Lampen nach aussen gespiegelt das Innere des Raums ins Unendliche verlängern, Lichtbalken in die Schwärze zaubern.
Distanz schafft ein kleiner ähnlicher, mit Metalldraht vor ein mit Mr. Knott betiteltes Porträt gespannter Glaskasten, der Nähe und Distanz visualisiert, die Aura eines Menschen oder seinen Sicherheitsabstand zur Umgebung: die Entfernung, bis zu der man sich ihm nähern darf. Man scheint an den kalten transparenten Glasflächen abzuprallen und doch sind sie nur lose vor die Photographie gebunden.
Auf andere Weise verbindet die im Schulhaus Balzers realisierte Arbeit Kreide Ein- und Ausblicke. Martin Walch unterbrach dort die Glasfassade mit monumentalen geschliffenen Schiefertafeln. Schieferplatten auf den Sitzstufen der Treppen und Felder vor den Fenstern setzen diese Materialität im Freien fort. Die schiebbar vor der Glasfront platzierten Schieferplatten beschränken in variabler Anordnung die Ausblicke, schaffen jedoch gleichzeitig Einblicke in die Befindlichkeit der Schülerinnen und Schüler, die mit Kreide zahllose flüchtige Mitteilungen und Zeichnungen auf den Tafeln und Sitzplatten anbringen. Die Sichtblenden sind zum Sprachrohr geworden, zu Interaktionsflächen. Längst haben die Lernenden die unausgesprochene Einladung zur direkten, ehrlichen Reaktion ohne künstlerische Absicht wahrgenommen, der Abwart wäscht die Spuren von Zeit zu Zeit ab, ein Rhythmus des Zeichnens und Putzens, Füllens und Leerens pulsiert über die dunklen Felder. Die strenge geometrische Anordnung schafft Raum oder vielmehr Flächen für den Wildwuchs spontaner Äusserungen.
Sprüche, Zeichnungen, Graffitis überlagern einander auch dicht auf den vierzehn Tischplatten von Schulbänken, die kürzlich eigentlich hätten entsorgt werden sollen. Erstaunlich, wie farbenprächtig Schülerinnen und Schüler die Tischplatten im Unterricht nicht nur mit Kugelschreibern beschrifteten, sondern mit veritablen Farben bemalten. Ein kollektives Kunstwerk von einer Dichte, die von einer Einzelperson so kaum zustande zu bringen wäre, ist mit der Beiläufigkeit heimlicher Kritzeleien organisch gewachsen.
Dass Martin Walch die Tischplatten vor der Fahrt in die Kehrichtverbrennung bewahrte, sie von den Bänken löste, mit Stahlhalterungen versah, die es ermöglichen, das schwere bemalte und beschriftete Holz wie das Bild eines alten Meisters leicht abgehoben von der Wand zu präsentieren, sagt uns vielleicht, dass ihm Reaktion, Interaktion so wichtig ist wie seine persönliche künstlerische Handschrift. Oft schafft er Versuchsanordnungen oder ein formales Gerüst für zwischen den Formen vibrierende Prozesse, die in ihrem Oszillieren ihrer Flüchtigkeit das Eigentliche seiner Kunst ausmachen.
Der Wind, der eine fragile Anordnung auf dünnen Metallstäben befestigter Eier bewegt, ist so wichtig wie die Ordnung, die, wenn es Martin Walchs Anordnung ist, vielleicht nur dazu dient, den Wind sichtbar zu machen, jene unfassbare Fülle von Unwägbarkeiten, die dem Festen vorausgeht oder zugrundeliegen, mit dem wir sie zu bannen versuchen.
Dass es diese Starrheit nicht gibt, in Bewegung bleibt, was wir so gern fixierten, ist eine der durchgängigen Aussagen in Martin Walchs Werk. Wo er eine Form setzt, überschreitet er sie. Gegensätze gehen ineinander über, bringen einander hervor. Vielleicht weicht die Irritation des Schwankenden jenem ruhigen Vertrauen, das die Oszillation jene Kontinuität ist, die wir dem Statischen zuschreiben, dass Rhythmus Form ist und Form Bewegung, Fliessen, Unterweisen. Die Durchlässigkeit der von Martin Walch gesetzten Formen macht das Ungeformte erfahrbar, wahrnehmbar. Die Löcher, die er in unsere Vorstellungen sägt, schaffen Transparenz für die Wirklichkeit, legen sie offen, legen sie frei.
15.11.2007
Thomas G. Brunner