Installation in der Johanniterkirche Feldkirch /A
Plastikfolie verschweisst, mit Luft gefüllt
Die Wahrnehmung des Menschen steht im Zentrum der Arbeiten von Martin Walch. Wie verläuft der Blickkontakt, wenn sich Menschen begegnen? Mit diesem Phänomen beschäftigt sich der Liechtensteiner Künstler in der Johanniterkirche in Feldkirch. Meterhohe luftgefüllte Plastikskulpturen machen die Sehräume unserer Augen sichtbar. Zu sehen und zu begehen ist die Ausstellung „Lichtblicke“ vom 24. September bis 10. Dezember 2016.
Mit seinen Plastiken erweitert Martin Walch den naturwissenschaftlichen Begriff des Sehraums, der unser visuelles Bild von der Welt beschreibt, um eine soziale Dimension. Auf poetische Weise thematisiert der Künstler unterschiedliche Konstellationen menschlichen Zusammentreffens. Die kegelförmigen Gebilde aus durchsichtiger und eingefärbter Folie markieren die individuellen Sehräume und die Schnittstellen mit anderen. Unterschiedliche Farben deuten bewusst klischeehaft die Emotionen an. Das Thema beschäftigt den Künstler, seit er mit 18 Jahren zum Brillenträger wurde: „Diese zunächst befremdende Situation der Wahrnehmung mit der Sehhilfe war für mich Anstoß, der Frage nachzugehen, was wir wirklich sehen. Der Sehraum ist vorstellbar als kegelförmige Skulptur, die wir vor den Augen tragen. Diese Plastik wollte ich sichtbar machen. Mich interessiert dabei nicht die Einzelperspektive, sondern das Zwischenmenschliche.“
Viele Jahre lang zeichnete Martin Walch Skizzen dieser Sehräume, bis 2008 die ersten Plastiken entstanden. In der Johanniterkirche werden die Skulpturen erstmals in einer Einzelausstellung gezeigt. Die Installation konzentriert sich auf stereotype Situationen. Die Skulpturen sind als Standbilder kommunikativer Momente zu verstehen. Der „Voyeur“, der eine intime Begegnung beobachtet, die „Betrachter“ eines Kunstwerks, die „Familie“ im Dialog, die „Konferenz“ mit Referent und Zuhörenden, der „Kuss“ ohne direkten Blickkontakt usw.
Der Betrachter wird angeregt, sich anzunähern, die Plastiken im wahrsten Sinne des Wortes zu „durchschauen“. Was er sieht, wird von ihm selbst, den anderen und vom Ort beeinflusst. Die spontanen Interaktionen überlagern die in den Skulpturen visualisierten Blickwinkel durch neue, unsichtbare Sehräume. Martin Walch: „Als funktional besetzter Raum ist die Johanniterkirche eine Herausforderung. Der Raum ist aber spannend für meine Arbeit, weil eine Kirche ein Gemeinschaftraum ist, wo Menschen zusammenkommen, um das Licht, das Göttliche und das Erhabene zu suchen.“
© Karin Guldenschuh
Der Gesichtssinn, also das Sehen, nimmt seit der Antike in der Hierarchie der fünf Sinne den vornehmsten und ersten Platz ein. Bis heute ist der komplexe Vorgang des Sehens, der große Teile unseres Gehirns beschäftigt, nicht vollständig erforscht. Es heißt, dass der gesunde Mensch etwa achtzig Prozent aller Informationen seiner Umwelt über das Auge aufnimmt. Zwar benötigt der Mensch ganz existenziell auch die übrigen Sinnesorgane, um seine Erfahrung der Welt zu vervollständigen, doch haben Natur- und Geisteswissenschaftler, Philosophen und Künstler stets die überragende Bedeutung des Auges besonders gewürdigt, letztere freilich nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für die bildliche Gestaltung der Welt.
Dabei ist unser Sehen zunächst ein physikalischer Prozess, der nur im Zusammenspiel mit dem Licht gelingt: Wir erkennen Gegenstände, weil die von ihnen reflektierten elektromagnetischen Lichtwellen in unser Auge fallen und im Gehirn schließlich ein Bild entsteht. Unabhängig vom Forschungsstand haben sich aber von jeher Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit unseres Gesichtssinns eingestellt: So wissen wir von Sinnestäuschungen, von Trug- und Nachbildern – Phänomenen, die zwar physiologisch erklärbar sind. Wie wahr aber kann darüber hinaus unsere Wahrnehmung sein, wenn diese nicht nur von der Gesundheit unserer Augen, sondern auch von den Beziehungen zwischen Innen- und Außenwelt – von unserer inneren Gefasstheit und den Prägungen des Außen also – abhängig ist?
Es ist gerade diese Fragestellung, die Martin Walch inspiriert hat, für einmal nicht die Visualisierung der gegenständlichen Welt, sondern den Gesichtssinn selbst zum Thema seiner künstlerischen Auseinandersetzung zu machen. Den Impuls für die formale Umsetzung lieferte überdies die Vorstellung eines imaginären Raumes, den die für uns unsichtbaren, sich überschneidenden und kreuzenden Sehpyramiden oder Sehkegel kreieren, wenn Menschen sich schauend begegnen.
Steht zu Beginn der Werkgenese noch die Beschäftigung mit den physikalischen Voraussetzungen, etwa mit der Größe des Blickwinkels des menschlichen Auges, so befreit sich der Künstler schnell von den naturwissenschaftlichen Grundlagen; diese spielen für seine künstlerische Erkundung zwar keine unwichtige, aber eine eher sekundäre Rolle. Ginge es nur um die Sichtbarmachung von Blickwinkeln beziehungsweise Sehkegeln, so wäre dies eine Reduktion der Wahrnehmung auf einen perspektivisch festgelegten Ausschnitt von Wirklichkeit, auf das geometrisierende Sehen im Sinne der Zentralperspektive etwa, ein Konstrukt, mit dessen Hilfe in der Renaissance eine objektive Systematisierung des darzustellenden Raumes angestrebt wurde. Martin Walchs „Sehräume“ aber beruhen auf einer Bildlichkeit, die das scheinbar objektivierende Sehen mit einem Verständnis vom Sehen als individualisiertem und verkörperlichtem Vorgang verbindet.
Dem Künstler geht es jedoch nicht nur um die Bewusstmachung eines alltäglichen Vorgangs, des Sehens und visuellen Wahrnehmens also, sondern um Metaphern optischer Kommunikation und deren Grenzen. Die Erfassung der Welt geschieht zwar beim sehenden Menschen ganz maßgeblich über das Auge, ergänzt wird sie jedoch etwa durch auditive, taktile wie auch empirische Erfahrungen, die sich vielfach auf der emotionalen Ebene abspielen. Martin Walch interessieren hierbei neben individuellen, persönlichkeitsbezogenen auch kulturelle und gesellschaftliche Prägungen, das zugleich Eigene und Fremde in den Empfindungen. In diesem Zusammenhang ist auch die Farbigkeit der Plastiken bedeutsam, denn, so hat es Johannes Itten für seine künstlerische Arbeit einmal formuliert: „Farben sind Strahlungskräfte, Energien, die auf uns in positiver oder negativer Weise einwirken, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.“
Mit Farben verbinden uns gewisse Empfindungen, die durch individuelle Vorlieben, Konventionen, Erfahrungen und unseren kulturellen Lebensraum geprägt sind. Gerade das Farbempfinden – der Begriff selbst deutet es bereits an – ist ein äußerst subjektiver Vorgang, den wir vermutlich nur in Annäherungen objektivieren können, wenn man bedenkt, dass wir etwa zehn Millionen Farbtöne unterscheiden können. Dennoch können die Farben der Werke zusammen mit ihren Titeln – „Voyeur“, „Betrachter“ oder „Familie“ etwa – sowie der Vorgabe einer Blickrichtung Interpretationsmöglichkeiten anbieten: Wir stellen uns vor, am spitz zulaufenden Blickwinkel eine der vorgegebenen Positionen einzunehmen und Teil der jeweiligen Konstruktion zu sein; wir identifizieren uns mit der Farbe des Sehkegels, empfinden sie als warm oder kalt, freundlich oder düster, angenehm oder bedrohlich. Durch die Fixierung auf einen bestimmten Sehwinkel erfolgt die Lenkung des Wahrnehmungsaktes, wir nehmen die Position des „Voyeurs“ ein oder entscheiden uns für eine Stellung in der Konstellation „Familie“. Gleichwohl hat der Betrachter die Freiheit, jederzeit seinen Standort zu wechseln, sich frei im Raum zu einem anderen Blickpunkt zu bewegen, eine andere Rolle, eine andere Haltung einzunehmen, sich selbst und sein Umfeld jeweils neu wahrzunehmen.
Die physikalische Durchsichtigkeit der Plastiken, ihre Transparenz, ist im jeweiligen räumlichen Umfeld stets von zentraler Bedeutung. Sie ermöglicht unterschiedlichste Bezugssysteme: Der Betrachter sieht über den Innenraum der transparenten Plastik hinaus die weitere räumliche Umgebung; das Umwandeln eröffnet vielfältige Seh- und Raumsituationen, es entstehen Dialoge zwischen den Werken selbst, zwischen Betrachtern und Werk, zwischen Werk und Kirchengebäude.
Räumliche, kulturelle und kommunikative Beziehungssysteme stehen also im Zentrum – wie vielfach innerhalb des gesamten künstlerischen Schaffens von Martin Walch. Die Entscheidung, in der Johanniterkirche eine Installation seiner sogenannten „Sehräume“ zu zeigen, ist ein unmittelbares Reagieren auf den sakralen Ort und erlaubt dem Künstler selbst, seine Arbeiten nochmals neu auszuloten. Gerade im Kirchenraum spielt das Licht für ihn eine wesentliche Rolle, wie der Titel „Lichtblicke“ bereits vermuten lässt. Bei Tag, und vor allem bei Sonnenschein, lassen durch die Fenster fallende Lichtstrahlen im Umfeld der Plastiken mannigfache farbige Reflexe entstehen, die einerseits als immaterielles Ausgreifen der Werke in den Raum zu begreifen sind. Andererseits fühlen wir uns erinnert an die Bedeutung des Lichts in gotischen Kathedralen, wo das farbige, durch große Fenster fallende Licht die Verbindung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre symbolisieren sollte.
Diese Vorstellung führt von der reinen Physik des Sehens in die Metaphysik des Sehens. Anders als das statische Kunstlicht, auf das wir in der dunklen Jahreszeit vermehrt angewiesen sind, hat das natürliche Licht des Tages den Vorzug der permanenten Veränderung. Die sich so ständig wandelnde Situation im Installationsraum kann metaphorisch auf die Prozessualität allen Lebens verweisen, was zusätzlich unterstützt wird durch die optische und materielle Fragilität der seifenblasenartigen Plastiken. Dieser Aspekt mag uns an die kosmologische Theorie Heraklits erinnern, nach der alles fließt, alles ein ewiges Werden und Wandeln ist, bei dem nichts verloren geht, sondern lediglich einem unendlichen Stoff- und Formwechsel unterliegt – das Sein ein dynamischer Prozess – ein Gedanke, der heute wohl auch von maßgeblichen Physikern geteilt wird.
Cornelia Kolb-Wieczorek